Die deutsche Kleinstadt stellt einen besonderen Ort dar, in dem sich ganz eigene Verhaeltnisse entwickelten im Gegensatz zur Anonymitaet der Grossstadt und zur Verschlossenheit des baeuerlichen Landes. In den Freundschaften und Freundeszirkeln der Kle ...
Die deutsche Kleinstadt stellt einen besonderen Ort dar, in dem sich ganz eigene Verhaeltnisse entwickelten im Gegensatz zur Anonymitaet der Grossstadt und zur Verschlossenheit des baeuerlichen Landes. In den Freundschaften und Freundeszirkeln der Kleinstadt wurden spezifische Arten der Kommunikation gefoerdert. Aber die Zeit des Wilhelmischen Kaiserreiches 1871 bis 1914 bildete den Hoehepunkt der Industriellen Revolution in Deutschland, verfestigten sich die Grundmuster des modernen Staedtewesens. Der Wandel der Staedte von noch mittelalterlich-laendlich gepraegten Siedlungen zu Gemeinden moderner Struktur und Organisation forderte die Kleinstaedter heraus, sich die neue Werte und Norme anzueignen und an die industrialisierte, moderne Lebensweise anzupassen. In der vorliegenden Forschungsarbeit habe ich es mir zur Aufgabe genommen, die kleinstaedtische Kultur des 19. Jahrhunderts in den Werken von Wilhelm Raabe und Theodor Storm vergleichend zu betrachten.
In seinem Roman "Die Akten des Vogelsangs" aus dem Jahr 1896 schildert Raabe die Jugendzeit, die die 3 Freunden, Karl, Velten und Helene zusammen in der Vorstadt "Vogelsang" verbracht haben, und ihr Leben und ihre tragische Liebe. Wie in der Novelle Storms "Boetjer Basch" erinnert sich auch hier der Ich-Erzaehler, ein Beamter und Bildungsbuerger, aus seiner Perspektive.
Zu der Zeit, als Karl Krumhardt noch mit seinen Freunden in Vogelsang war, gab es noch nicht "Bauschutt, Fabrikaschenwegen, Kanalisationsarbeiten und dergleichen" in der Vorstadt. Die nachbarschaftliche Beziehung war vorhanden, die Natur gut bewahrt, und die Stadt stellte eine ideale Lebensumgebung dar.
Der Erzaehler zeigt immer wieder seine Skepsis und seinen Unmut dem zeitlichen Phaenomen des Kapitalismus oder Materialismus gegenueber, als dessen Folge bisherige geistige und moralische Werte verlorengegangen sind.
Wie in Storms "Basch" tritt auch in "Vogelsang" Amerika als ein Gegebild des deutschen Provinzlebens auf, und zwar mit dem viel haerteren Ton und der viel staerkeren Intensivitaet. Der Zerfall und die Aufloesung der Kleinstadt wird auch viel klaeglicher gezeichnet: waehrend die Handwerkerfamilie in "Basch" am Ende mindestens ein bescheidenes Glueck und Sicherheit geniessen kann, muessen die Freunde in "Vogelsang" Tod oder Abschied erfahren.
Und eine Person wie Velten Andres in "Vogelsang", der als mutige Menschen gegen die buergerliche Welt agiert, existiert nicht in der idyllen Welt von "Basch". Hier ist nur der Rueckkehr des verlorenen Sohnes willkommen, der jegliche gesellschaftliche Normen und Werte akzeptiert.
Obwohl die beiden Werke gleich im spaeten 19. Jahrhudert geschrieben wurden, kontrastieren sie deutlich und sind daher gut vergleichbar. Storm hat seine Erinnerung in die Anfangsjahrzente des 19. Jahrhunderts plaziert und in der Darstellung einer humorvolle Idylle Hoffnungen auf ueberkommenen Werten wie menschliche Solidaritaet, Naechstenliebe, gute nachbarliche Beziehungen, Mitgefuehl, gemeinsame Unterstuetzung usw. gesetzt. Aber Raabe scheint zu diagnostizieren, dass die harmonische Zusammenfuehrung von Individuum und Gesellschaft gescheitert ist und die ehemalige Vision einer humanen buergerlichen Gesellschft aufgegeben zu haben.