Im Unterschied zu zeitgenoessischen Literaturhistorikern nahm Walter Benjamin Goethes Gedanken und Werke mit kritischem Blick auf den Goethe-Kult ernst. Goethe uebte einen staendigen und wichtigen Einfluss auf Benjamins Schreiben aus. In der Reichsgru ...
Im Unterschied zu zeitgenoessischen Literaturhistorikern nahm Walter Benjamin Goethes Gedanken und Werke mit kritischem Blick auf den Goethe-Kult ernst. Goethe uebte einen staendigen und wichtigen Einfluss auf Benjamins Schreiben aus. In der Reichsgruendungszeit wurde Goethe als eine Verkoerperung der politisch und oekonomisch stark gewordenen Nation verehrt und nach dem Untergang des Reichs bot das Goethe-Bild eine geistige Grundlage fuer die Entstehung des neuen deutschen Staates. Benjamin kritisierte die bedingungslose Verherrlichung des klassischen Kulturerbes in seiner Zeit und behauptete, dass eine auf der Gegenwart basierende Idee der Vergangenheit einen toedlichen Stoss versetze.
Benjamins Essay Goethes Wahlverwandtschaft ist grundlegend fuer seine kunstphilosophische Goethestudie. Fuer ihn ist "Wahlverwandtschaften" ein Roman mit mythischen Geheimnissen. Benjamin versteht den schoenen Schein als das Zentrum der mythischen Kraefte und versucht, dem Roman ein neues Leben zu geben. In diesem Versuch wird der schoene Schein zerstoert, von seiner aeusserlichen Heiligkeit befreit und endlich gerettet.
Im zweiten Teil der Habilitationsschrift "Ursprung des deutschen Trauerspielbuchs", in dem es sich um die Rehabilitation und die Rettung der kuenstlerischen Ausdrucksform Allegorie handelt, kritisiert Benjamin das Symbol- sowie Allegorieverstaendnis des Klassizismus sowie der Romantik. Zudem haelt er Distanz zu Goethes negativem Urteil ueber die Allegorie.
Das "Moskauer Tagebuch" zeigt, dass Benjamin begann, den Staat als ein wichtiges Element der Geschichte aufzufassen. Fuer ihn war Moskau ein Laboratorium, in dem die Entwicklung der Technik und Industrie das neue Kollektivbewusstsein entstehen liess. Solch ein politischer Gesichtspunkt bildet den Hintergrund der Benjaminschen Goethe-Kritik. Gemaess Benjamin fasst Goethe das politische Geschehen in ewigen Naturzusammenhaengen auf und beschraenkt die Wissenschaft nur auf Ziele, die mit der Natur zu tun haben.
Als Einziger in seiner Zeit betrachtete Benjamin im Goethe-Artikel, den er fuer die "Grosse Sowjet-Enzyklopaedie" geschrieben hat, Goethe aus der Perspektive des historischen Materialismus. Er stellte dabei Goethes Bild vortrefflich in einer verdichteten Form dar. Einerseits sieht er ihn als einen Fortsetzer der europaeischen Aufklaerung, andererseits weist er auf Goethes pessimistisches und konservatives Politikverstaendnis hin.
Benjamin stimmt in seinem "Passagen-Werk" "Goethes Anforderung an den Gegenstand einer Analyse" zu, "eine echte Synthesis aufzuweisen". Er behauptet, dass "das dialektische Bild" des historischen Gegenstandes dieser Anforderung genuege und es "das Urphaenomen der Geschichte" sei. Hier kann man Benjamins Interesse entdecken, Goethes Naturbetrachtung im geschichtsphilosophischen Zusammenhang umzudeuten. Fuer ihn wird der Begriff Apokatastasis, die einen theologischen Hintergrund der Rettung von Fausts Seele bildet, zur theoretischen Stuetze fuer die Rettung der unterdrueckten Vergangenheit.
Es ist moeglich, die 10. These von "Ueber den Begriff der Geschichte", in der "der Engel der Geschichte" auftritt, als ein geschichtsphilosophisches Gegenstueck zur letzten Szene von Goethes "Faust" zu lesen. Unter einer solchen Lektuere wird die ernste und zugleich scherzhafte Inszenierung in "Faust", in der das sich irrende, aber immer strebende Individuums gerettet wird, der bildlichen Darstellung in der 10. These entgegengesetzt, in der der Engel durch den aus dem Paradies her wehenden Sturm einen Anlass zum Erwachen bekommen koennte.
Benjamin setzte sich in seinen fruehen Schriften mit Goethes Kunstauffassung auseinander. Nachdem er vom Marxismus beeinflusst wurde, aenderte sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzung. Er erhob Einwand gegen Goethes konservative, politische Ansichten und dessen geschichtsfremde Weltanschauung. Allerdings war seine Auseinandersetzung in dieser Phase vorwiegend indirekt und andeutend.